Reflexion

Erfahrungen in und Erkenntnisse aus der Literatur

Notizen aus knapp vier Jahrzehnten

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Was wird aus einem, dem der Vater Schreibverbot erteilt hat, und der nicht weiß, ob er werden wird, was er werden will?

Alphonse Boudards Les Combattants du petit Bonheur (Helden auf gut Glück)

Brief von Elmar Tophoven, damals der „Papst“ in puncto Übersetzungen aus dem Französischen ins Deutsche. Elmar – Begründer des Europäischen Übersetzerkollegiums in Straelen. Übersetzer von Samuel Beckett, Claude Simon, Marguerite Duras, Alain Robe-Grillet usw.

Er schreibt an Ortmann:
„Inzwischen habe ich mit großem Vergnügen Deine Boudard-Geschichte [=Übersetzung] gelesen – und auch Meyer-Clasons Intervention in der FAZ. Ich selbst hatte vor, eine Art Sprachspielblütenlese unter dem Titel ‚Das Beste aus Boudard/Ortmann’ zu schreiben. Die Vorarbeiten dazu sind geleistet: ich habe 1400 schöne, schwierige Stellen im Original angestrichen und verglichen. Dabei kam mir gleich der Gedanke, mit diesem Material den Grundstock für eine Art ‚Argot-Deutsch-Wörterbank’ zu bilden. (...) Ärgere Dich nicht über den Tiefschlag von [FAZ-Kritiker] Ayren! Ich wüsste nicht, wie man das Argot-Problem besser hätte lösen können. Du hast glänzende Einfälle“
(07. 08. 1979)

Es gibt zwei Werke: das zu fertigende und das zu veröffentlichende.

Es gibt Schreiber, die den Prozeß des Fertigens über den des Veröffentlichens stellen, und es gibt solche, die das Fertigen verabscheuen, weil ihnen immerzu etwas einfallen muß, aber im Veröffentlichen und in der Selbstdarstellung sind sie gut. So daß wir oft einer völlig verdrehten Reziprozität begegnen: wo die qualitätsvollen Fertiger die qualitätsvollen Veröffentlicher sein sollten, sind es die mittelmäßigen Veröffentlicher, die in Scharen sich durchsetzen

Das Athener Experiment
Die lange Pause, bewusst eingelegt, eineinhalb Jahre lang, glaube ich, in der ich mich jeglichen Schreibens enthielt, stattdessen wort-los mit der Frage umging, ob ich nicht einen gewissen Ausdruckswunsch mit Begabung verwechselte. Ob ich mir Schreiben wünschte aufgrund eines neurotischen Zwanges. Oder war es doch ein natürliches, nicht zu zähmendes Anliegen? Die Frage hat sich dann unmissverständlich von selber beantwortet. Jetzt war ich Opfer (und vielleicht auch König)
(18. 01. 1978)

Das Liedchen, mit dem ich am Tag meiner Abfahrt zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb nach Klagenfurt aufgewacht bin:
Nichts zu sein
Das ist sehr wenig
Doch wer nichts ist
Der ist König
(10. 06. 1980)

Vermarkten zum Schaden des Schreibens – Schreiben zum Schaden des Vermarktens

Aber das Wissen war so, so und nicht anders - das Erkenntnisglück und der Wissensekel: das Glück des Forschens und Entdeckens, das Glück, Zusammenhänge herzustellen, in die Tiefe zu dringen, Welt mit hanebüchener Genauigkeit zu erfahren, und danach der Absturz, der Ekel vor dem Denken, vor den Büchern, und der Wunsch, den Kopf leerzukriegen

In ein Kunstwerk gehört ausnahmslos alles.
Es muss immer etwas von einem geordneten Delirium haben.
Es gehören hinein: die Grausamkeit, die Brutalität, dazu Liebe, Zärtlichkeit, Hass, Eifersucht und Selbstzerfleischung, und der Tod gehört hinein, die Erlösung, der Himmel, das Meer, und die Bitterkeit, das Misstrauen, die Sonne, die Zweifel, die Verzweiflung gehören hinein, und was noch hineingehört, das sind der Dreck, die Erschöpfung, die Nervenzusammenbrüche, die Lebensgier, das Abwegige, der Lebensmut, der Todesmut, und hinein gehören auch die tödliche Leere, die herrliche Fülle, die Fruchtbarkeit, die Melancholie, der Hunger, die Armut, die Freundschaft, der unablässige Kampf - und mehr und immer mehr Licht.
(Juni 1967)

Wir machen nur dann beste Literatur, wenn wir nicht aufs Publikum schielen

Ich gab 1962 auf Formentera einer Freundin meinen Text „Die violette Höhle“ zu lesen. Als sie mich fragte, wo und wann und mit wem ich diese Liebesgeschichte erlebt habe, war ich perplex: zum ersten Mal hatte ich schreibend eine Wirklichkeit erfunden, die es davor nicht gegeben hatte

Schreiben: darauf
Steht nun lebenslänglich
Fünfundzwanzig Jahre
Habe ich bereits abgesessen
In dieser Zelle
Für die ich allmonatlich
Auch noch berappen muss
Selbst gewollt
Sagt man
Ich sage: Wer
Sich die Freiheit nimmt
Die Angst den Mut
Sich selbst in Frage zu stellen
Als Homo faber Schablonen
Zu zerbrechen
Der wird ganz einfach
Als Verbrecher behandelt
Als einer der ausschert
Völlig uneinsichtig
Selber schuld
(19. 08. 1979)

Katja B. hat eine Karte geschickt: „...heute habe ich die Wünsche, die das Fenster vergittern, bekommen, sie begeistert gelesen. Da sind ganz wunderschöne Stellen drin, die schreiende Melone im Zug, die Szene in der Kneipe [die mit Kyrie Albanos]. Ich bin glücklich darüber, daß Du unterwegs bist. (...) Die Reise nach Griechenland muss ja ein Erdrutsch für Dich gewesen sein. Ich hab das Gefühl, Du wirst immer ‚stärker’, genauer, lebendiger“

Noch keine Miete April bezahlt
Noch kein Telefon für den März
(rosa Mahnung kam heute)
Mannigfache andere Rechnungen
Genauso wenig beglichen
Auf der Bank die Konten
Sind praktisch leer
Die Leere geht mir an die Gurgel (01. 04. 1980)

Alle unsere Erzählungen sind Fiktionen, weil wir selbst Fiktion sind. (Shakespeares Our little life is rounded with a sleep). Die einzige Frage, deren Beantwortung uns retten kann: Wer sind wir wirklich (geworden) durch den Schmerz?

Der Elektroingenieur: Sie schreiben gut. Nehmen wir also an, Sie schreiben. Aber wie schreiben Sie? Was schreiben Sie? Wie viele Stunden am Tag schreiben Sie? Vierundzwanzig, sagte ich.
Aber das meinen Sie doch nicht im Ernst, sagte er.
Doch, sagte ich.
Vierundzwanzig Stunden in einem Stück? fragte der Ingenieur.
Ja, sagte ich.
Der Mann schwieg betreten, dann platzte er heraus: Schreiben Sie auch Träume auf? Welche Träume schreiben Sie auf? Sind Träume wichtig für Sie? Ich selber, wissen Sie, vertraute er mir an, ich selber träume nie. Natürlich träume ich, schränkte er sofort ein, aber ich erinnere mich an nichts mehr am Morgen. Erinnern Sie sich? Meine Texte sind alle geträumt, sagte ich. In Wirklichkeit schreibe ich gar nicht.
Da ging ihm ein Licht auf, ein Glanz verschönte das triste Grau seiner Augen: Sie sind ein Traumtänzer, sagte er in einem Ton, als habe er ein Kind bei einer Lüge ertappt, ohne diesem freilich allzu böse zu sein, es fehlte nur noch der scherzhaft drohende Zeigefinger (München, 31. 10. 1981)

Vom Schreiben seit Tagen verschwitzt und verdreckt, ich mag dann auch keine Kleider wechseln, gehe angezogen ins Bett, mag kein Bad nehmen, ich fühle mich abscheulich und wohl zugleich in meinen versifften Klamotten, in meiner unter dem Schweiß- und Schmutzfilm sich erneuernden Haut (02. 11. 1981)

Rückblick und Feststellung: daß ich beruflich zufrieden sein kann wie selten. Denn das Schreiben beginnt sich zum erstenmal durch sich selbst zu tragen, vor allem mit Hilfe des Rundfunks. Gleich zwei Anstalten wollen ein und dasselbe Hörspiel von mir haben (NDR und WDR). Das Übersetzen von Büchern ist sehr weit in den Hintergrund getreten. Vielleicht muss ich wirklich nicht mehr auf die nächste Miete schielen, auf das Morgen, das kein finanzielles Übermorgen kennt (Januar 1983)

Vorgestern abend: die beste, schönste und faszinierendste Lesung, die ich bislang hatte. Fast nur mein Lesetischchen war in der Galerie Pich beleuchtet: Das Publikum (etwa 40 Leute) nah und doch gleichzeitig in ein angenehmes Dunkel entrückt. Gelesen habe ich neben der Phönix-Erzählung ausschließlich neue Texte:. Eine völlig neue Tonart, das merkte ich schon während des Lesens. Die Leute erstarrten (meistens) vor Aufmerksamkeit. Die Stille nach jedem Text war intensiv, zum Greifen (19. 03. 1983)

Gestern vor Wut und Verzweiflung im Wohnzimmer ein Weinglas an die Wand gedonnert: wegen des Schreibens. Diese aus mir herausplatzende Gewalt habe ich seit Jahren nicht mehr erlebt. Aber es war auch wüst, dieses Nicht-Zurecht-Kommen mit dem Text Die Entbindung des Todes. Ich wütete gegen das Schreiben, die hundsgemeine kreative Anstrengung, bei der am Schluss doch nichts rauskommt. Ein ganzes Leben lang? Nein, niemals. Es gibt andere und lustvollere Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben. Eine Pause einlegen, in einen leeren Raum einkehren, den Kopf aus dem Schlaf heben, damit er im Himmel zu kreisen, zu singen beginnt. Diesen Himmel erfinden, wenn nötig (24. 04. 1983)

Das Produkt des Arbeiters, seine Leistung sind einschätzbar, berechenbar, nach Stück oder Stunde bezahlbar. Seine Gefährdung und sein Verschleiss am Arbeitsplatz sind versicherbar. Des Arbeiters Wert ist feststellbar. Das alles trifft auf den Schriftsteller nicht zu. Weder ist das Produkt seiner Arbeit einschätzbar (denn was war denn mit Büchner, mit Kleist, mit Stifter, mit Musil?), noch ist seine Leistung in irgendeiner Weise messbar (denn einer, der drei Wochen oder drei Jahre an einer Seite Text oder gar einem Gedicht sitzt – dieser Mensch ist unberechenbar, er ist nach Stück oder Stunde nicht bezahlbar, er kann höchstens ins Grab hinunter- und später wieder heraufgelobt werden. Sein Wert ist nach den üblichen Arbeitsnormen nicht feststellbar. Wer könnte ihm die innere (und evtl auch äußere) Gefährdung nachrechnen? (Mai 1983)

Die halbe Nacht mit Erektion zugebracht. Die sich nicht auf meine Gefährtin richtete, die neben mir lag, auch nicht auf eine andere Frau. Auch nicht urinarisch bestimmt war sie. Nein, sie war auf den Text gerichtet (Die Entbindung des Todes) (20. 05. 1983)

Sprache und Enteignung
Norfolk im Richard II von Shakespeare wird in die Verbannung geschickt, seiner Sprache, seiner Muttersprache enteignet, zum König sagt er: „Was ist dein Urteil denn als stummer Tod / Das heim’schen Laut zu reden mir verbot?“
Doch Shakespeares Mann ist vierzig Jahre alt; mit vierzig kommt ihm die Muttersprache abhanden, sie wird ihm geraubt:
„Und meine Zung nützt mir nun nicht mehr...“
Ich selbst bin mit vierzig – dem Jahr des Erscheinens des Phönix – sozusagen zu meiner Muttersprache gelangt: mir selbst Mutter. Auf mannigfachen Umwegen und Reisen habe ich die Enteignung rückgängig gemacht. Mühseliger, langwieriger Prozess einer Rückeroberung. Dazu musste ich ins Exil, ins innere und ins äußere, um hier gegen meinen blinden Realismus, meine fremdverfügte Wahrnehmung anzuschreiben. Mein Vater hatte Schreibverbot und somit Verbannung verhängt

Ein monomaner Beruf
Ein Beruf für Idioten – in einem zugleich dostojewskischen und apokalyptischen Sinn. Nicht das Geschriebene, den Schreibenden meine ich. Da arbeitest du zum Beispiel den ganzen Tag lang wie ein schwitzender Berserker, mit dem Recht auf Ruhe in der Nacht, aber – du kannst nicht schlafen. Bleierne Müdigkeit, aber kein Schlaf. Mit der Arbeit am nächsten Tag geht dann auch nichts mehr. So sollst du dein Leben hinbringen?
So entstehen die Werke der Verblendeten, der Eingekellerten, der Wolkenstürmer. Die über ihre eigene physische und psychische Gesundheit hinwegstürmen. Das Werk. Und der Nimbus der Tragödie eines solchen Lebens. Später ist gut verherrlichen. Die Schlaflosigkeiten bleiben ungezählt. Was ist es, das zu solcher Monomanie treibt? Die äußerste Form, der geschlossenste Inhalt – das, was man vieldeutig „Kunstwerk“ nennt? Die geleistete Arbeit, die am Ende ihren Schöpfer verschlingt? Doch die Gesellschaft will solche Tragödie auch noch bestätigt haben – in Form von Selbstmord, geistiger Umnachtung usw. Erst danach – nicht davor – darf erfolgen die Eintrittsbewilligung in den bürgerlichen Olymp

Erkenntnisglück versus Wissensekel
Einmal dieses beschwingte, vitale Gefühl: alles wissen (erkennen) zu wollen, lesen, in die Tiefe dringen, Zusammenhänge erarbeiten, und all dies nicht nur zerebral: die Welt erfassen als ein magisches, überwältigendes, dennoch begreifbares Ganzes. Dann wieder: der Ekel vor dem Denken, vor den Büchern, der Wunsch, den Kopf leer zu kriegen, seinen sítio zu finden.
Zwei Seiten ein und derselben Medaille (München – Köln, 09. 08. 1996)

Was ist Erfolg?
Kollege Eberhard H. am Telefon gratuliert mir zu meinem Erfolg.
Naja, sage ich. Ein Journalist kommt gestern, um mit mir ein Interview zu machen für den SR und den ORF. Eine Inge P. (Autorenbuchhandlung) empfiehlt mich zur Lesung in der Autorengalerie. Ein Karl Krolow in der Stuttgarter Zeitung schreibt eine berückende Kritik über Die Wunde kehrt ins Messer zurück. Karl Ude in der SZ setzt mich neben Joachim Kaiser als „Einzelgänger“. Und was? Wovon lebt, worüber schreibt, wie liebt ein solcher Mensch? Sicher nicht durch den Erfolg. Sondern aus dieser Zelle heraus, worin er fühlt-denkt-schreibt. Von allem anderen ist immer wieder Abschied zu nehmen – von den lächerlichen Ungeheuern der sogenannten Berühmtheit (21. 11. 1984)

Lesung Buchhandlung Lehmkuhl mit etwa 50 Leuten
Mit meinen Eltern im Rücken. Bezeichnend. Sie kamen als letzte, gingen als erste.
Redewendungen fielen mir ein: Ich muss den Rücken freihaben; oder: Rückendeckung; oder: jemandem in den Rücken fallen.
Ich war schon mittendrin im Lesen, da hörte ich sie die Treppe heraufkommen.
Ich las aus der „Rundesten Geschichte von der Welt.“
So daß ich nun zwei Väter hier im Raum hatte: den frei mir erfundenen aus meiner Erzählung, und den anderen, der mir im Rücken saß.
Fragte ich mich: Hielt mein erfundener Vater gegen meinen leiblichen Erzeuger stand? Ich ging noch tiefer noch konzentrierter in den Text hinein. Der Erfundene sprach aus mir, als hätte es ihn immer schon gegeben. Er trug den Sieg davon. Kraftvoll. Meine große Freude, mit kleiner Schadenfreude vermischt. Die Eltern verabschiedeten sich hastig (21. 11. 1984)

Geldmäßig sieht es düster aus aus: wieder mal. Aus dem Bankautomaten kommt kein Groschen mehr: Ihr Konto ist nicht gedeckt. Als sei mein Konto eine Stute: nicht begattet, nicht befruchtet. Es ist immer das Gleiche: Ich arbeite und arbeite, ich quetsche mich aus, ich lasse nicht locker, ich gebe nicht auf. Obwohl: Beim Ohr auf dem Tisch da war es fast so weit, ich dachte: Lass diese Wahnsinnigen (Strindberg, Gauguin, van Gogh) sitzen, stehen, liegen in ihrem Kummer, ihrem Unglück, ihren Katastrophen, aber nein, ich stieg immer wieder in den Irrwitz hinunter, ich wollte nichts Halbes. Trotzdem: Es bringt alles immer noch kein rechtes Überleben.
Sechs Monate in diesem Jahr am Roman. Eine gute, fruchtbare Zeit, aber in puncto Einnahmen: Null.
Der letzte Erzählband Die Wunde kehrt ins Messer zurück war finanziell eine Katastrophe.
Nächste Woche wird die Bank anrufen, der Filialleiter wird (zunächst höfliche) Drohungen ausstoßen, und ich werde ihm beizubringen versuchen, daß ich in diesem Jahr noch ein gewaltiges Vermögen verdienen werde, haha. (München, 14. 09. 1985)

Ich musste mir immer wieder Geld besorgen, „nebenher“, um mein Schreiben zu ermöglichen.
Man stelle sich einen Bäcker vor, der dafür bezahlt, daß er backen darf... (11. 09. 1987)

Die Griechen mit ihrem erstaunlichen "Bravo!"
Dialog zwischen vier Alten auf Arkassas Marktplatz, der, weil so klein, gar keiner ist. Der erste Alte fragt mich:
Was machst’n so?
Er meint, was ich arbeite, beruflich. Der zweite mischt sich ein:
Der schreibt ein Buch.
Der dritte ergänzt:
Der kommt jedes Jahr hierher.
Und der vierte:
Ein Schriftsteller ist das.
Darauf der erste:
- BRAVO!
(26. 05. 1987)

Schreiben und Langeweile
Das Auge hat sich an der karpathiotischen Landschaft sattgesehen – eigentlich schon vor drei Jahren. Gedankenaustausch auf etwas höherer Ebene ist den Einheimischen nicht zuzumuten; du kannst dich mit ihnen übers Wetter, über TV, Fußball, Baupreise und Ziegen unterhalten. (Da ihre Küche äußerst schlicht ist, interessieren sie sich nicht fürs Kochen, fürs Essen.) Du kannst baden – im Meer, in der Sonne. Viel mehr Auswahl gibt es kaum. Trinken, mit den Fischern raus fahren ... das eine macht Kater, das andere wird Routine... So daß bleibt: die Langeweile.
Wegen ihr komme ich her. Sie ist es, die mich der Arbeit, dem Schreiben verpflichtet.
Im Gegensatz dazu München: Ablenkungen die Menge – Freunde, Kino, Theater, Konzerte, Venezia, Englischer Garten, Ausstellungen, Lesungen et. A wie Arkassa wie Arsch der Welt ... hier hilft die Langeweile dem Schreiben nicht nur auf die Beine, sondern in mächtigen Sprüngen voran (Arkassa - Karpathos, 28. 05. 1987)

Dramaturg Klocke über Ortmann
Er hat eine private Mythologie, seine Hörspiele fangen ganz gewöhnlich an, aber dann – passiert etwas. Eine Behauptung, eine winzige Nachdenklichkeit, ein Brösel Angst oder Traum. Was man eben nicht erklären kann. Ein Nichts. Sowas stehe am Anfang. Und eben diese private Mythologie... (So in etwa Klocke zu Rolf Wintermeier über Ortmann) (01. 07. 1988)

Seitdem ich schreibe, vom Schreiben lebe, ist es mir materiell noch nie so gut gegangen. Dieses Jahr 1987, wir schreiben Februar, ist finanziell so gut wie gelaufen: durch Hörspiel-Wiederholungen und zwei Neuproduktionen (Aus dem Augenleidenbuch und Der Idiot der Liebe). Ich bräuchte keinen Strich mehr zu tun und darf das gar nicht laut sagen. Und sehr leise muss ich auch sagen: Irgendwie bin ich verärgert darüber. Gut, ich habe einen nüchternen Bezug zum Geld gewinnen müssen. Andererseits möchte ich alles Geld zum Fenster hinausschmeißen – nicht aus Vergeudungssucht, sondern weil ich so wenig wie möglich damit zu tun haben möchte. Es stört mich. Es stört mich bei meiner Arbeit. Ich laufe seit zwei drei Monaten in derselben Hose, im selben Jackett rum: in Hamburg, in Berlin und vor allem in München. Nur das Zeug darunter ist frisch gewaschen. Ich fühle mich wohl in meiner Haut. Zu solchem Wohlfühlen hat Geld niemals beigetragen. Geld war Notwendigkeit – das ja. Aber Ersatzhandlungen oder Kompensation durch Geld kenne ich nicht. Die einzige Ausnahme: Bücher. Aber für die gibt es und die sind kein Ersatz (07. 02. 1987)

Aus einem anderen Land, aus einer Gespensterwelt? fragte ich mich. Auf dem Kassettenband des Anrufbeantworters: Schreibmaschinengeklapper, manchmal knallte eine Stahlletter, dann Pfeifen, Zischen, Stampfen wie aus einer Fabrik, über diesem ganzen Akustikteppich ständig ein Murren, ein lautes, unverständliches Denken mit brummiger Stimme. Ulf Badendiek? Er lässt sich gelegentlich solche Verrücktheiten einfallen, schickt mir Telegramme mit Texten aus meinen eigenen Büchern – diese Stimme, die ein einziges Mal verständlich wird, als sie sagt: Schreiben ist teuflisch Schabernack, reißt am Schluss den Kopf dir ab (23. 07. 1994)

Der Stift sucht endlich wieder die Fährte:
Satz um Satz, Bild um Bild, Handlungsteil um Handlungsteil.
Der Erfindungsreichtum und die Mühsal von Herz, Hirn, Hand.
Die Beute am Schluß ist der Text
(München, 14. 03. 2009)

Das Thema Blindheit
„Das Blindentollhaus“
Der Blinde in meinem Hörspiel „Alaska: Land unter der Haut“
Der Blinde im Hörspiel „Klaus Störtebeker oder Nur der Lügner gelangt in den Besitz der Wahrheit“
Im Hörspiel „Blinde Kuh“
Der Mensch ist blind auf die Welt gekommen, und blind wird er sie wieder verlassen
Blindflug – Blinde Spiegel – The Blind Watchmaker – Blindenschrift – Der blinde Seher – Schneeblind – Blindenanstalt – Blindgänger
Du wirst blind – ein Durchgang zum eigentlichen Sehen
Wenn ich völlig blind bin, werde ich am schönsten singen, sagte die Nachtigall
(München, 17. 04. 2009)

142, 70: Ich spreche in der Welt.
Die Welt spricht in mir.
Ohne Sprache wäre die Welt Rudiment.
Nicht gemeint ist die Sprache des Linguistikers, sie ist Reflex auf Sprache,
Sondern die Sprache des Unbewußten, des Erfinders, des Wortewebers –
Worte bedeuten Wachsen aus der Welt in neue Welt.
Ohne Worte bleibst du nur in der Welt.
(München, 16. 06. 2009)

Durchs Wort geboren, im Wort geborgen. Einsam im Wort: ein schweres Glück, freudig zu tragen, so daß es oftmals ganz leicht wurde. Am Ende das Wort, weil es am Anfang nicht gewesen ist – am Anfang waren nur Echolalien (München, 17. 08. 2009)

Armut und Qualität Jahrzehntelang in der Überzeugung gelebt, daß in der armseligsten Hütte Schreiben möglich sei. In solchen Hütten viel eher als in Palästen. Daß der Wortwerker in jedem Teil der Welt leben könne, um hier an seinem Werk zu arbeiten. Denn das Leben in der Hütte und um die Hütte herum oder der Dreck wird ihm zu Gold: Rimbaud in Abessinien nennen wir das, obwohl er dort nicht mehr dichtete. Die äußere Armut sei direkt proportional dem inneren Reichtum, das war meine Überzeugung. Deshalb fürchtete ich mich nicht vor der Armut (München, 01. 02. 2010)

Das Thema Sturz Mir gar nicht bewusst, daß der Sturz durchgehendes Motiv in meinen Werken ist.
Mein Roman Nie wieder Mozart! beginnt mit den Worten: „Am Anfang war der Sturz. Auf die Welt gestürzt, da hat schon mancher daran glauben müssen.“ Dann das große Thema des Sturzes, das sich durch den ganzen Roman Der Sieg der Verlierer zieht – vom Flug hinein in den isländischen Vulkan über des Protagonisten jahrzehntelangem Absturz im Traum bis hin zum Sturzthema im Kapitel „Die einzige Geschichte“. Dem gingen voraus, folgten nach: Sturz auf Karpathos (vom Moped), Sturz in den Orgasmus, Sturz vom Schiff (in „Schiffbrüchig in Diafani“), Sturz des Ilias vom Turm seines Vaters, des Popen, Sturzgeburt („aus dem Uterus auf den Grund des Todes“), „Der Sturz in die Kindheit zurück“ (München, 04. 10. 2010)

Denkmal aus Papier – jedes literarische Werk ist so.
Jede Stadt ist voll von Denkmälern (auch Straßennamen gehören dazu) – bei den meisten weiß keiner, wer, wo, wie der, dem gedacht wird, denn war. Jedes Denkmal (oft aus Eitelkeit) will Ewigkeit. Unerfüllbar dieser Anspruch, denn wir sind descendants of the past, auf dem absteigenden Ast sozusagen. Beim Schreiben treibt mich nicht der Wunsch, mir ein Denkmal zu setzen, es treibt mich der Wunsch nach Präzision, Authentizität und Fantasiereichtum. Natürlich möchte ich, daß meine Arbeiten veröffentlicht werden. (Aber immer mit dem Athener Experiment im Hintergrund.)
Ezra Pound schreibt: „Ihre Werke von Spinnweben, wenn die Spinne tot ist“ (Cantos)
Jedes Buch ist ein Monument aus Papier. Innen begehbar. Leicht entzünd- und verbrennbar.
Am Schluss wird alles nichts sein
(München, 04. 06. 2011)

Barbara W. über meine Narren: Immer wieder überraschend, irritierend, auch (für sie) erschreckend manchmal, sehr schöne Bilder – den Menschen Edwin, wie sie ihn kannte oder zu kennen glaubte, konnte sie mit dem Schreiber nicht unter einen Hut bringen. Was nicht geht oder zumindest überflüssig ist, sagte ich
(München, 02. 11. 2011)

Handwerk des Schreibens: Einige Kunstgriffe
1) Wenn du den Text zur Hälfte oder etwas weniger bzw. mehr geschrieben hast, kannst du sicher sein, daß im bereits Geschriebenen die Lösungen für das noch zu Schreibende liegen; 2) Abends die Arbeit des Tages mit ans Bett, die Blätter noch einmal durchlesen – im Schlaf das Unbewusste arbeitet daran;
3) Am Morgen im Halbschlaf um dein Schreibthema herumstreichen, ohne es zu berühren
(München, 09. 11. 2011)
und
Wo bleibt die schwebende Aufmerksamkeit?
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Le mot juste
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Du musst den Text wie die Grille mit einem Grashalm aus ihrem Erdloch locken
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„Grabe an Ort und Stelle. Schweife nicht ab. Doppelter, dreifacher Grund der Dinge“ (Robert Bresson)
(München, 25. 05. 2012)

Schlechtes Schreiben während meiner Stipendien, definitiver Abschied von diesen.
Liebe versus Schreiben.
Konto oft im Minus.
Entdeckung meines Zerstörungswillens: der Maler Mac Zimmermann, der mir in Playa del Carmen eine Zeichnung von sich schenkte, am liebsten hätte ich sie zerrissen. Im Gegensatz dazu in der Oberpfalz dieser Hans mit seinem „Ich schreibe mich an der Welt entlang“ – bereits ein Außerirdischer, dement und glücklich inmitten seiner Müllhalde. Für ihn war alles gleich geworden? Mir sind alle Filme über Schriftsteller und ihr Schreiben fremd geblieben. Ich habe als Schriftsteller völlig anders gelebt. Schon gar nicht im Namen von Ehrgeiz und Erfolgssucht. Der Erfolg kam und ging: Häufiger ging er als er kam. (München, 05. 09. 2012)

147, 33: Zu Christiane S., die ich noch von Sommerhausen (1967) her kenne, sagte ich jüngst: "Mit meinem Beruf bin ich der glücklichste Mensch." "Das kann ich mir denken", sagte sie
(München, 21. 02. 2014)

Erzählen, um zu überleben
Um den Morgen schon, den Tag zu retten.
Aus dem verstummten Mund heraus, vollgestopft mit Traum.
Erzählen, um nicht zu weinen und um zu weinen.
Eine Himmelsleiter erzählen.
Und erzählte Räuberpistolen, Trucker-Stories und Liebesgeschichten, erzählte von Monstren und Schmarotzern, erzählte Schmerz und Kummer, Glück und kleine Pornografien, von der Furie des Verschwindens, um nicht selbst zu verschwinden, um nicht aufzugeben den Kampf gegen die wüsten Zwerge und höhnischen Messerstecher in seinen Alpträumen, aus seiner Kindheit, woher immer auch, um nicht hineingesogen zu werden in den Spiegel und dort zu verschwinden

Die Comédie humaine
150 Arbeitstagebücher mittlerweile in den Laptop transkribiert, das sind etwa 14.000 Seiten, bleiben noch ca. 8.500 Seiten

München Steinsdorfstraße
Ich stehe sehr früh auf, um niemanden zu sehen, mit niemandem reden zu müssen, um mit meiner nachtgeborenen Bitterkeit niemandem den Tag zu vergällen; ich stehe sehr früh auf, um in mein Gefängnis zu gehen, denn hier bin ich frei. Ich habe in verschiedenen Ländern gelebt, ich habe mehrere Bücher, noch mehr Hörspiele geschrieben und veröffentlicht...
...und jeden Tag, fast jeden Tag bin ich in mein Gefängnis gegangen und war glücklich.
Das Ich ist immer unwichtiger geworden
(München, 08. 04. 2001)

Nach jedem größerenWerk war er wie tot: ausgehöhlt und leer gepumpt. Folgte das lange endgültige Darniederliegen. Bis sich das Ende des Werkes zeitlich entfernte. Was noch werden würde mit Schreiben wußte er nicht. Bis er noch einmal aus der alten Haut schlüpfen durfte: total unverhofft. (München, 10. 03. 2009)

Wir werden aus dem Unbewussten geboren und sterben in es wieder hinein. Das Unbewusste ist gigantisch, weder räumlich noch zeitlich zu ermessen, verglichen mit ihm ist unser Leben so groß wie ein Stecknadelkopf. Es ist irreal, irregulierbar, irrational: es irrt nie, indem es ständig irrt: scheinbar. Es ist witzig, hämisch, weise, weiblich, männlich, kindlich, kindisch usw. Aus dem Unbewussten und mit Hilfe des Wortes habe ich die Schätze dieser Arbeitstagebücher (mittlerweile 150) geschöpft - fast jeden Morgen seit vielen Jahren, im Halbwachzustand oder Vorbewusstsein habe ich meine Träume geplündert, die möglicherweise ganz anders gewesen sind, sie haben mit mir, ich habe mit ihnen gespielt: das Unbewusste ist ein Spielwerk. Das war und ist mein Schreiben am Morgen.
Wenn ich das nicht mehr habe, bin ich tot.
Durch das Schreiben am Morgen habe ich Tragödien, Katastrophen und Ängste aufgearbeitet.
Und ich konnte jeden Tag einigermaßen heil beginnen: So lang du das nicht hast, dieses Stirb und Werde...
(München, 13. 04. 2011)