Hörspiele

Essen oder gegessen werden - zwei Frauen, ganz in Weiß

Hörspiel (NDR, 1989)

„Unordnung und frühes Leid als Hörspielthema, ein Rückblick auf den großen Abenteuerspielplatz und das intime Schlachtfeld der sich herauspuppenden Adoleszenz, Irrungen, Wirrungen im Blickwinkel eines fünfzehnjährigen ... ein auf die Hörbühne gebrachtes Familienalbum, entfaltet zum Stationendrama einer entscheidenden Lebensphase, zugleich fokussiert durch die von Phantasie angereicherte Erinerungsarbeit des inzwischen Vierzigjährigen. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit der späten Kindheit, beim Eindringen ins Labyrinth der eigenen Lebensgeschichte wird die biblisch festzumachende Unmöglichkeit zitiert, ein ‚Kamel durchs Nadelöhr’ zu treiben... Und weiter ist die Rede vom Traum, der ‚mitten in diese Spiegelfalle’ hineinführt, und vom ‚Zauberwort’, das vom Bann solcher Wiederbegegnung mit sich selbst erlöst, indem es ... Kindheitserfahrungen und ihre Folgen, ihre lebenslang nachwirkenden Verletzungen im dialektischen Sinne ‚aufhebt’... Wie am Ariadnefaden von Erinnerung plus freier Assoziation tastet sich einer zurück in dieses Schreckenskabinett mit seinen Spiegelwänden und deren Verdoppelungseffekten: Der kleine Joschi erscheint zugleich in der Gestalt seines älteren Bruders; das Mädchen Monika, Spielgefährtin und Freundin der beiden Jungen, verschmilzt mit der Groteskgestalt der Apothekerin und Krankenschwester zu ‚Zwei Frauen: ganz in Weiß’. Monikas Vater, der beinlose Invalide ... wird zum personifizierten Symbol des beschädigten Lebens und gleichzeitig zur Spielfigur in einer absurden Komödie, als die sich das Trauerspiel dieser von Imagination ausgeweiteten Erinnerungsarbeit zum Zwecke einer Selbstbefreiung über weite Strecken aufführt. Das ist ein Ergebnis der ins Surrealistische ausgetriebenen ... phantastischen Realismus, den der Regisseur Hans Gerd Krogmann als von lyrischer Reflexion durchschossenes Traumspiel vorführt, episodisch als Alptraumspiel voller Bizarrerie und Zerrspiegelungen. ... Der Autor verlässt mit diesem Part die sonst durchgehaltene Zweidimensionalität, wie sie einmal durch die Beobachtungen des Jungen, zum anderen durch die Perspektive des Erwachsenen vorgegeben ist. Ortmann, im Hörspielbereich längst etabliert, zieht mit inneren Monologen des ... amputierten ehemaligen Offiziers dem Stück gleichsam eine dritte Ebene ein, als traue er der Verständlichkeit dieser bereits entwickelten Figur zu wenig...“

Die rundeste Geschichte von der Welt

Hörspiel (NDR / WDR, 1984, Hörspiel des Monats)

Zum Hörspiel des Monats April 1984 wählte die Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste, Frankfurt

Die rundeste Geschichte von der Welt
Von Edwin Ortmann; Regie: Horst Loebe.
Produktion: NDR.

„Mit der Frage, wie man ‚verlierend den Krieg gewinnt’, lässt Ortmann den Helden Oliver in das ‚Haus seiner Erinnerungen’ eintreten. Die rundeste Geschichte von der Welt, eine alltägliche Geschichte über alltägliche Kriege, fasziniert durch ihre Einfachheit, Poesie und Musikalität. Im Nacheinander von Reflexionen, Gesprächen mit der Mutter und szenischen Vergegenwärtigungen einer Kindheit im Wirtshaus wird das Bild des toten Vaters lebendig. Leitmotivisch ertönt Summen von am Fliegenpapier sterbenden Fliegen: Wenn der Vater aus der Enge des Kneipenlebens in Abenteuer- und Heldenträume im fernen Amerika flüchtete, so produzierte seine Phantasie Gewalt bei anderen und richtete sich dann gegen ihn selbst. Die Geschichte über den tödlichen Alltag und über tödliche Fluchten hat der Regisseur zu einem Hörspiel verarbeitet, das leise in einer lyrischen Sprachmelodie trauert. Mit einem Ensemble guter Stimme (Bruno Ganz, Peter Striebeck, Ingeborg Engelmann u. a.) sind vielschichtige Sprach-, Bild- und Klangräume gewonnen. Sie werden dem Alltagskrieg gegenübergestellt“ Deutsche Akademie der Darstellenden Künste, 3. 5. 1984

Der Idiot der Liebe

Hörspiel (RB, 1987)

„Beginnen wir mit einer nackten Tatsache: Edwin Ortmanns neuestes Hörspiel ist für Ohren mit hohen Ansprüchen geschrieben worden; nichts läuft in ihm ganz normal ab. Den Inhalt, den kruden Handlungsstrang freilich nur, lassen wir den traurigen Helden selber aussprechen: ,Ein Freund hat sich zu seinem Geburtstag ein Liebespaar gewünscht. in seinem eigenen Bett. Er hat mich in seine Freundin hineingefädelt, und da - da machte es klick! Jetzt muss ich mich wieder selber herausfädeln.’ Es ist ein gewisser Herr Arne, der sich das hier angedeutete Liebesabenteuer leistet. Ob dies real geschieht oder nur eine Kopfprojektion ist, kann nicht eindeutig ausgemacht werden. Dabei verfolgen den gequälten Mann auf den Kanarischen Inseln weibliche Stimmen und Sirenen, akustisches Zauberwerk, dem auch Odysseus ausgesetzt gewesen sein mag auf seinem Schiff. Die Weltsicht des Helden und damit auch seine Sprache sind nicht ohne Bedeutung. Hier wird tief gedacht und gelitten, das wird dem Hörer selbst bald einsichtig. Es kommt dann zu so kleopatraken Wort- und Denkgebäuden wie: ‚Wir dressierten jetzt sogar unsere Vergangenheit’ oder ,’Wir lebten in einem Konjunktiv-Museum’. Das ließ erschauern und gleichzeitig aufhorchen, hier verdichteten sich abendländisches Denken auf einzigartige Weise. Nur ein gänzlich spröder Hörer, dem Geduld, Bildung und Wissen nicht mit in die Wiege gelegt wurden, mag voreilig mit jenem Knopf geliebäugelt haben, der alles in akustische Nacht hätte verwandeln können“

Produktion RB/SR

Von Burkhard Schlichting,
Hörspiel-Dramaturgie

SWF, 11. 6. 1996

„Lieber Herr Ortmann,
als wir telefonierten, musste ich Sie bitten, sich längere Zeit zu gedulden und kann nur auf Ihr Verständnis hoffen, weil es tatsächlich lange gedauert hat, bis ich mich zu einer Entscheidung über Ihr verlockendes Angebot durchringen konnte. das - wie Sie wissen - alle gewohnten Programm-Dimensionen sprengt. Anstalten, die nicht in einen wöchentlichen Zuständigkeits-Wechsel mit kooperierenden Nachbaranstalten eingezwängt sind, haben es natürlich leichter ein dreiteiliges (oder wie Sie vorschlagen: sechsteiliges) Hörspiel einzuplanen als der SWF, der sich die Programmtermine vom S2Kultur und dem SDR teilen muss. Nicht zuletzt ist da die finanzielle Dimension einer Produktion mit 24 Rollen und etwa viereinhalbstündiger Gesamt-Sendezeit aller Folgen. Deshalb musste ich in diesem exzeptionellen Fall erst die kürzlich erfolgten Etat-Zuteilungen abwarten, um mit letzter Sicherheit zu erfahren, daß wir Ihnen im Südwestfunk auf absehbare Zeit leider keine Realisierungs-Chance bieten können. DAS REIFEN ZUM BIEDERMANN - EIN DEUTSCHER TRAUM- UND BILDERBOGEN war für mich eine buchstäblich hinreißende Lektüre, und diese witzige und hintergründige Folge teutonischer Selbstentlarvungen zu einem Radioroman entwickelt zu sehen, hätte mir großen Spaß gemacht. Um diese Figuren über sechs Hörfolgen im Gedächtnis zu etablieren, bedürfte es hochkarätiger Besetzungen, einer auf äußerste Markanz hin arbeitenden Regie und einer ausgefeilten musikalischen Dramaturgie. Dieser 'Bilderbogen', das ist klar, hat tatsächlich auch eine stark optische (fast comic-zeichenhafte) Dimension, die erst einmal in ein akustisches Konzept übersetzt sein will. Für Hör-Comics auf diesem Niveau gibt es in der Hörspiel-Geschichte bisher wenige überzeugende Beispiele. Ich kann nur hoffen, daß die Herausforderung, die darin steckt, ARD-Kollegen mit größeren Etat-Spielräumen zur Produktion reizt. Für den SWF kann ich nur mit Bedauern das Manuskript zurückgeben und mich noch einmal für Ihr Angebot bedanken. Und: Natürlich interessiert mich Ihr neues Projekt, von dem Sie schrieben.

Herzliche Grüße aus dem heißen Baden Baden
von Ihrem
Hans Burkhard Schlichting“

Das Hörspiel Das Reifen zum Biedermann wurde schließlich vom NDR in Koproduktion mit dem DLR und SDR unter der Regie von Hans Gerd Krogmann produziert

Aus dem Hörspielkatalog des NDR
„Auf einem niedergerissenen Teil der Berliner Mauer entdeckten wir die gloriose Sprayschrift: Deutschland muss deutscher werden. Deutsche Erfindungen sind: die Turnkunst,, die Kriminologie, das Mundwasser Odol. Die einschlägigen Erfinder sind die Protagonisten dieses Stückes - sie sind hinter der sagenhaften Odol-, der großen Hygieneformel her: Saubermänner, Biedermänner, Dunkelmänner... Dazwischen einige Butekuden oder Sündenböcke, ohne die das mörderische Treiben und Getriebenwerden nicht so spannend, nicht so erregend wäre. Ein kleines Kabinettstück über das große Volk der Denker und Dichter, der Henker und Vernichter - ein deutsches Pandämonium“
NDR / DLR / SDR, 1998

Aus dem Augenleidenbuch

Hörspiel (NDR / SDR, 1987)

„„Um Traumwelten, Erinnerungswelten, Wandlungen und Besinnungen geht es auch im neuen zweiten Hörspiel des Autors: Ortmann beruft sich im Zusammenhang mit der Thematik dieses neuen Werks auf den Begriff der literarischen Mystifikation, einer kunstvollen Variante des gewöhnlichen Schabernacks. Sie kann dem Vergnügen dienen, jemand hinters Licht zu führen, gleichzeitig zielt sie auf Entmystifizierung. Der ‚Drahtzieher’, der hinters Licht führt, heißt im Stück Martin. Er hat zum Beispiel eine Zwillingschwester namens Katharina erfunden, die er eines dramatischen Todes sterben lässt, und diesen Tod zelebriert er, sarkastisch, spöttisch, spielerisch, in den verschiedenen Szenen und Episoden, in denen es um das ‚Augenleiden Liebe’ geht. Es ist (...) auch die Geschichte eines Mannes - Arne -, der hereingelegt, benutzt wird, der zwei anderen als Köder dient, die sich dadurch gegenseitig etwas beweisen wollen. Das Ende ist Ernüchterung, Desillusion. In der Inszenierung von Hans-Gerd Krogmann türmen sich Reflexionen, Zwiegespräche, Small-Talk aufeinander, die Sprache ist stark, bildhaft, Wortspiele liefern bewusst Missverständnisse und vertiefen sie (...) Krogmann spielt diese Künstlichkeit konsequent hoch etwa in der Art und Weise, wie er Stimmen verzerrt, musikalische Akzente, Halleffekte und Rückblenden ausarbeitet. Wo ist Scherz, wo ist Entsetzen - alle machen mit im Streit um den Wert des Glücks - und am Ende weiß, wie es Ferdinand Raimund ausdrückt, ‚keiner nix’“

Funk-Korrespondenz Nr. 49, 4. 12. 1987
DLR